Sonderbeitrag zu Ostern
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Zwischen Selbstdruck und „sich gehen lassen“
Alexander sitzt im Sessel und schaut auf das Buch. Die Seite hat er jetzt bereits drei Mal angefangen, doch seine Gedanken kreisen noch immer um den morgendlichen Streit. Ostern. Er hat gerade echt keinen Kopf für dieses Festgetue. Er wollte sich nicht mit seinen Eltern auseinandersetzen und ihnen erklären, dass eine Depression keine Schwäche ist, sondern eine Krankheit. Er hatte keine Lust auf Tipps und Ratschläge, was er machen könne, um sich aufzuheitern. Dass Elke nun auch noch anfing, ihm zu sagen, was er machen und wie die kommenden Tage ablaufen sollten, frustrierte ihn noch mehr. Als ob er nicht selbst lieber wieder gut drauf wäre. Und er war es leid, keine Kraft zu haben, nur hier rumzusitzen und nicht zu wissen, was er mit sich selbst anfangen sollte.
Schon diese Gedanken kosten ihn unglaublich viel Energie und er legt das Buch endgültig zur Seite. Nebenan in der Küche hört er, wie Elke die Spülmaschine ein- oder ausräumte. Normalerweise würden sie sich am Samstag Morgen die Hausarbeit teilen, um den Nachmittag für Unternehmungen frei zu haben. Doch das scheint ihm jetzt weit weg, als wäre es ewige Zeiten her. Er schämt sich dafür, dass er sie mit allem alleine lässt. Nicht nur mit dem Haushalt, sondern mit dem ganzen Alltag. Mit Mathilda. Mit allem was so anfällt. Auch mit seinen eigenen Terminen bei den Ärzten, der Krankenkasse für das Krankengeld und all dem anderen, das er alleine im Moment gar nicht hinbekommen würde. Sein Kopf sinkt noch tiefer und er stützt die Ellenbogen auf den Knien ab, während er sein Gesicht in den Händen versteckt.
„Mama?“ hört er Mathilda rufen. „Was ist denn, mein Schatz?“ antwortet Elke, während das leise Klirren von Geschirr die Worte begleitete. „Wo ist Papa?“ – „Er hat sich ein wenig hingelegt. Er ist heute sehr müde.“ Ein unangenehmes Gefühl breitet sich in Alexanders Bauch aus. Er hört ein zartes Pispern vom Stimmchen seiner Tochter, kann die Worte jedoch nicht verstehen.
„Nein, mein Hase, komm her zu mir! Der Streit hatte nichts mit dir zu tun!“ vernimmt er nach einer kurzen Pause. „Du bist eine ganz großartige Tochter, die sehr viel Rücksicht nimmt. Und wir sind sehr stolz auf dich!“ Die Sätze seiner Frau schlagen ihm wie ein Faustschlag auf den Magen. Im ersten Impuls will er aufspringen und Elke anbrüllen. „Lass das Kind da raus!“ brüllt es in seinem Kopf. Doch er bleibt stumm, steif und bewegungslos im Sessel sitzen.
Plötzlich Tränen schießen ihm in die Augen. Tränen der Dankbarkeit und Liebe für seine Frau, die ihn vor seiner Tochter in Schutz nimmt. Tränen der Traurigkeit für seine Tochter, für die er nicht da sein kann. Und Tränen der Wut auf sich selbst, weil er nicht alleine gegen die Depression ankommt. Doch er würde alles tun, damit seine Familie wieder glücklich sein würde. Und in diesem Moment ist ihm auch egal, was seine Eltern sagen werden. Er würde an Ostern dabei sein – egal mit welcher Stimmung und Energielage. Irgendwie würde er es hinbekommen und mit seiner Tochter Ostereier suchen. Für Mathilda.
Für Schattenkinder wie Mathilda – Kindheit im Schatten einer Erkrankung
Gesunde Kinder haben eine bemerkenswerte Eigenschaft im Umgang mit Emotionen: Als wären Gedanken und Gefühle eine Hasengrube, springen Kinder hasengleich mit beiden Beinen vollständig in die Emotion hinein, aber auch ebenso schnell wieder aus der Gedanken-Hasengrube hinaus. Problematisch wird diese Eigenschaft, wenn das familiäre Umfeld belastet ist und sehr häufig solche Wechselsprünge auf die kindliche Seele einwirken. Kinder beziehen aufgrund unzureichender Lebenserfahrung und noch nicht ausgereifter Abgrenzungsfähigkeit nahezu jedes Verhalten und jede Situation aus dem Umfeld auf sich selbst.
Ist ein Mensch psychisch erkrankt und leidet beispielsweise an Depressionen, sind seine Verhaltens- und Reaktionsmuster oft schon für einen Erwachsenen kaum bis gar nicht nachvollziehbar. Um wie viel schwerer muss es dann für ein Kind sein, mit den wechselhaften Stimmungsbildern umzugehen!?
Der Umstand des „Gefühls-Springens“ bei Kindern weckt beim Betrachter den Eindruck, das Kind sei durch die Ablenkung von problematischen Themen und negativen Gefühlen ab dem erneuten Lachen und Springen wieder völlig unbeschwert. Diese Beobachtung trügt jedoch, denn es bedeutet nicht, dass die Gedanken und Gefühle nicht weiterhin im Unterbewusstsein des Kindes arbeiten. Entsprechend benötigen Kinder viel Aufmerksamkeit von erwachsenen Lebensbegleitern, die ihnen helfen, schwierige Gefühlskonstellationen zu verarbeiten.
Leben Kinder in Haushalten, in denen eine Person durch eine schwere Erkrankung beeinträchtigt ist, kommt die liebevolle Aufmerksamkeit oft unbewusst zu kurz. Dabei ist die Art der Erkrankung – ob körperlich oder psychisch bedingt – unerheblich. Diese Kinder werden oft zu früh mit gehobenen Anforderungen konfrontiert. Häufig wollen Kinder helfen und übernehmen schnell mehr Verantwortung, als für eine lebensfrohe Kindheit altersgemäß ist.
Für Kinder, deren Kindheit im Schatten der Erkrankung eines oder mehrerer Angehöriger steht, hat sich die Bezeichnung „Schattenkinder“ etabliert. Sie profitieren nicht nur zu festlichen Anlässen wie Ostern vom Zusammenhalt der ganzen Familie. Ein liebevolles Umfeld kann Kindern helfen, schwierige Familiensituationen zu kompensieren. Haben Sie den Eindruck, Ihr Kind leidet, sollten Sie auch professionelle Unterstützung für das Kind in Betracht ziehen, um die gesunde Entwicklung nicht zu gefährden.
Insbesondere Aufmerksamkeit und Zeit nur für das Kind bieten sich als tolle Geschenke, die alternativ zu Süßigkeiten und Spielwaren bereichern. Geschenkte Zeit ist immer kostbar – für Schattenkinder jedoch umso mehr. Verschenken Sie doch beispielsweise als gesunder Elternteil, als Tante oder Onkel, als Großeltern oder Freund der Familie kleine Ausflüge mit dem Kind, auf denen es unbeschwert Kind sein darf. Gehen Sie gemeinsam ins Kino, in den Park, zum Schwimmen oder zu anderen kindgerechten Erlebnisplätzen und helfen Sie dem Kind, eine unbeschwerte Zeit zu verbringen – Einmal ganz ohne den Gedanken an den erkrankten Angehörigen.
Und bedenken Sie dabei: Zeit schenken ist in jedem Schattenkind-Alter eine gute Wahl – für das Kleinkind, die pubertären Teenager und die 8-jährige Mathilda aus unserer Geschichte gleichermaßen.
Wir wünschen Ihnen eine wundervolle Zeit mit Ihren Lieben!