Kann über die Nahrung zugeführtes Glutamat Depression, ADHS und andere psychische Erkrankungen auslösen oder fördern? Seit vielen Jahrzehnten stehen solche Vermutungen im Raum, wissenschaftliche Belege gibt es dafür allerdings nicht. Was man jedoch weiß: Veränderungen des körpereigenen Glutamat-Stoffwechsels können mit psychischen Erkrankungen in Verbindung stehen. Deshalb zielen bestimmte neuere Medikamente gegen Depression auf den Glutamat-Stoffwechsel im Gehirn ab. Hier geben wir einen Überblick, was über die komplexen Zusammenhänge zwischen Glutamat und psychischen Erkrankungen bisher bekannt ist.
Kann Glutamat im Gehirn eine schädliche Wirkung haben?
Injiziert man neugeborenen Ratten oder Mäusen sehr große Mengen an Glutamat, dann kann es zu schwerwiegenden Schädigungen des Gehirns kommen: So sterben Nervenzellen in verschiedenen Gehirnregionen ab, was ernsthafte Entwicklungsstörungen zur Folge hat. Glutamat kann somit bei Säugetieren und damit auch beim Menschen grundsätzlich eine neurotoxische Wirkung haben, wenn es in viel zu hoher Konzentration ins Gehirn gelangt.
Auf den Menschen übertragbar sind die Ergebnisse dieser Tierversuche aber aus mehreren Gründen nicht:
- Erstens wurden diese Versuche mit extrem hohen Dosen an Glutamat durchgeführt, die beim Menschen einer Aufnahme von mindestens 140 Gramm Glutamat entsprechen würden. Im Durchschnitt nimmt man über die Nahrung etwa 0,3 bis 1 Gramm Glutamat täglich zu sich, bei stark glutamathaltiger Ernährung können es bis zu 5 Gramm sein.
- Zweitens haben weitere Studien gezeigt, dass weniger als 5 Prozent des über die Nahrung zugeführten Glutamats überhaupt als solches vom Darm in den Blutkreislauf gelangt. Der Körper verwendet den Stoff nämlich zum Großteil als Energieträger oder Baustoff für andere Proteine. In den Tierversuchen hat man das Glutamat direkt in den Blutkreislauf injiziert.
- Drittens wurden diese Tierversuche während einer vulnerablen Entwicklungsphase durchgeführt. Bei neugeborenen Säugetieren ist die sogenannte Blut-Hirn-Schranke noch nicht voll entwickelt. Diese physiologische Barriere verhindert bei Erwachsenen und auch Kindern normalerweise ein Übertreten unerwünschter Stoffe aus dem Blut ins Gehirn.
Es ist somit wichtig, zwischen dem körpereigenen und dem von außen zugeführten Glutamat zu unterscheiden. Normalerweise handelt es sich hierbei um getrennte Kreisläufe. Das über den Darm aufgenommene Glutamat, egal ob aus natürlichen Quellen oder als Nahrungsmittelzusatzstoff, hat nur wenig mit dem Glutamat-Stoffwechsel im Gehirn zu tun.
Unter welchen Voraussetzungen könnte zugeführtes Glutamat im Gehirn Schäden anrichten?
Das mit der Nahrung zugeführte Glutamat könnte nur dann – theoretisch – schädliche Effekte auf das Gehirn haben, wenn die Blut-Hirn-Schranke aus bestimmten Gründen beeinträchtigt ist. Schädigungen oder Störungen dieser physiologischen Barriere sind durch Verletzungen oder Erkrankungen grundsätzlich möglich. So kann die Blut-Hirn-Schranke nach einem Schädel-Hirn-Trauma offenbar über Jahre in ihrer Funktion beeinträchtigt sein. Auch bei Erkrankungen wie Multipler Sklerose oder Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit) wurden Veränderungen der Blut-Hirn-Schranke nachgewiesen. Allerdings ist die Barrierefunktion in solchen Fällen nur teilweise reduziert. Es ist daher unwahrscheinlich, dass relevante Mengen von Glutamat aus der Nahrung in das Gehirn gelangen können, lässt sich aber im Einzelfall nicht völlig ausschließen.
Entstehen Depressionen, wenn der Stoffwechsel des Neurotransmitters Glutamat aus dem Gleichgewicht gerät?
Ein Übermaß des körpereigenen Neurotransmitters Glutamat kann im Gehirn aber sehr wohl neurotoxische Effekte haben, also zu einem Absterben von Nervenzellen führen. Dazu kommt es beispielsweise nach Schlaganfällen, wenn durch den Sauerstoffmangel bestimmte Transport-Mechanismen im Gehirn versagen und sich immer größere Mengen des Neurotransmitters Glutamat außerhalb der Zellen ansammeln. Das überschüssige Glutamat stammt in diesem Fall aber aus dem Gehirn selbst. Es wird nicht von außen über die Nahrung zugeführt.
Forscher vermuten, dass auch chronische, also länger andauernde Störungen des Glutamat-Stoffwechsels im Gehirn schädliche Effekte haben könnten. So werden Zusammenhänge zwischen Glutamat und Depression, Angststörungen, ADHS, Parkinson, Demenz oder Multipler Sklerose diskutiert. Auch hier handelt es sich aber um Störungen des körpereigenen (endogenen) Glutamat-Stoffwechsels und nicht um schädliche Wirkungen von Glutamat aus Nahrungsmitteln.
Welche Zusammenhänge bestehen zwischen Glutamat und Depression?
Derzeit wird intensiv an der Rolle des Neurotransmitters Glutamat bei Depression geforscht – auch im Zusammenhang mit einem neu für die Depressionstherapie entdeckten Medikament: Ketamin, ursprünglich ein Narkosemittel, hat nachweislich antidepressive Eigenschaften, die aber auf anderem Weg zustande kommen als bei herkömmlichen Antidepressiva.
Offenbar wirkt Ketamin über das Zusammenspiel mit dem Neurotransmitter Glutamat auf die Depression ein. Der Wirkmechanismus ist aber noch nicht im Detail geklärt. Eine Hypothese lautet, dass Ketamin über die Beeinflussung des Glutamat-Stoffwechsels das Wachstum neuer Verbindungen zwischen Nervenzellen fördert. Die verbesserte Vernetzung im Gehirn könnte zur Heilung der Depression beitragen, vermuten Forscher. Einer anderen Hypothese zufolge blockiert Ketamin bestimmte Andockstellen für Glutamat, die einer Art Anti-Belohnungssystem entsprechen. Dieses System könnte bei Menschen mit Depressionen überaktiv sein, seine Hemmung würde daher negative Gefühle wie Hoffnungslosigkeit und Lustlosigkeit verringern. Welche genauen Zusammenhänge zwischen Ketamin, Glutamat und Depression bestehen, muss erst im Detail geklärt werden.
Zusatzstoff Glutamat ist für das Gehirn wahrscheinlich nicht schädlich
Zusammenfassend lässt sich festhalten: Störungen des körpereigenen (endogenen) Glutamat-Stoffwechsels können mit psychischen Erkrankungen in Zusammenhang stehen, allerdings spielt das mit der Nahrung zugeführte (exogene) Glutamat dabei mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Rolle.
Falls Sie Zusammenhänge zwischen dem Nahrungsmittelzusatzstoff Glutamat und Depression oder anderen psychischen Erkrankungen bei sich oder Angehörigen vermuten, wollen wir diese Erfahrungen selbstverständlich keinesfalls in Abrede stellen. Es bedarf sicherlich weiterer Forschungen, um die Rolle von Glutamat bei Depression und anderen Krankheitsbildern genauer zu ergründen.
Ausgewählte Quellen zum Thema:
- https://www.rosenfluh.ch/psychiatrie-neurologie-2017-03/ketamin-und-andere-alternative-glutamaterge-antidepressiva
- https://www.mdpi.com/1422-0067/23/17/9628/pdf
- https://www.researchgate.net/publication/320191030_Effects_of_monosodium_glutamate_MSG_on_human_health_a_systematic_review
- https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/16957679/
- https://www.researchgate.net/publication/260423822_Monosodium_Glutamate_Toxic_Effects_and_Their_Implications_for_Human_Intake_A_Review