Wenn ein Mensch von einer Depression oder einer anderen psychischen Erkrankung betroffen ist, benötigt er oder sie meist Hilfestellung. Als Helfer stehen Ärzte, Therapeuten und im optimalen Fall auch das persönliche Umfeld zur Verfügung. Doch zu viel der angebotenen Hilfe und fehlende, überwiegend krankheitsbedingte Bereitschaft zur Eigeninitiative können eine gefährliche Hürde in den Genesungsweg einbringen: Fachleute sprechen von einem sog. „sekundären Krankheitsgewinn“ dann, wenn der Betroffene sich mit der Erkrankung arrangiert, um nicht nur kurzfristige Vorteile aus der Erkrankung und der damit einhergehenden Hilfe durch andere zu ziehen.
Wie kann man an einer Krankheit auch gewinnen? Krankheit als Chance!
Für gesunde Menschen ist die Bezeichnung „Krankheitsgewinn“ kaum nachvollziehbar. Und auch Kranke erwehren sich schnell der Vorstellung, sie würden Gewinn aus ihrer Erkrankung ziehen. Tatsächlich kommt es sehr häufig vor, dass Betroffene es sich in ihrer angeschlagenen Gesundheitssituation bequem machen.
Typischerweise werden Menschen, die krank werden, erst einmal von ihrem Umfeld entlastet. Erkrankungen erlauben es, zu Hause zu bleiben, statt arbeiten zu gehen, sich mehr um sich zu kümmern als um äußere Angelegenheiten. Ihnen wird Verständnis und Rücksicht entgegengebracht, während dem Betroffenen gleichzeitig Aufmerksamkeit und Fürsorge zu teil wird.
Primärer und sekundärer Krankheitszugewinn
Zu einem Krankheitsgewinn wird diese Situation, wenn der Betroffene die Umstände nutzt, um wichtige, aber unangenehme Situationen oder Konflikte zu umgehen, also ein Vermeidungsverhalten zu entwickeln. Er/Sie schiebt die Erkrankung (bewusst oder unbewusst) als Grund vor, seinen Aufgaben und Entscheidungen (vorläufig) aus dem Weg zu gehen. Aus ärztlicher Sicht wird hierbei von einem primären Krankheitsgewinn (innerer Krankheitsgewinn) gesprochen.
Ein sekundärer Krankheitsgewinn überträgt die neu gewonnen Vorzüge auch auf das Außen. So schön es auf den ersten Blick ist, wenn andere Menschen die alltäglichen Aufgaben (z.B. den Haushalt und die Speisenzubereitung) übernehmen und den Erkrankten verwöhnen, so schwierig wird es, wenn eine länger andauernde Krankheitssituation dazu führt, sich dauerhaft betreuen zu lassen und die Verantwortung für die Abläufe im eigenen Leben abgegeben werden.
Erschwerter Genesungsprozess bei psychischen Erkrankungen
Menschen mit psychischen Erkrankungen wie „Burnout„, Depression, Angststörungen und Phobien gehören zu einer gefährdeten Gruppe von Menschen, die meist unbewusst in die Problematik des Krankheitsgewinns hineinrutschen. Die lange Dauer der Behandlung, die vielfältige Symptomatik und eine lange Überbelastung vor der Erkrankung können Lebensumstände schaffen, bei denen sich Betroffene in der Krankheitssituation „einrichten“, die Auseinandersetzung mit der zu Grunde liegenden Problematik scheuen oder den sozialen Rückzug durch die dauerhafte Hilfestellung des engen Familien- und Freundeskreises forcieren.
Sind Sie selbst von einer psychischen Erkrankung betroffen oder Angehöriger eines Erkrankten, hinterfragen Sie regelmäßig gegebene und angenommene Hilfestellung im Alltag. Prüfen Sie sich selbst auf ausweichende Verhaltensweisen, z. B. Vermeidungsverhalten und Selbstaufgabe oder Akzeptanz der Erkrankung als dauerhafter Lebensbestandteil. Psychische Erkrankungen sind behandelbar, der Betroffene kann aktiv an seiner Genesung mitarbeiten und somit kann die Erkrankung auch eine Chance beinhalten. Sprechen Sie mit Ihrem Arzt oder Therapeuten über den Umgang mit Fürsorge und Hilfestellung ebenso wie über angstauslösende oder konfliktbehaftete Situationen, um der heimtückischen Falle des Krankheitsgewinns zu entgehen. In unserer Klinik werden diese Zusammenhänge offen angesprochen und einer Verbesserung zugeführt. Für uns beinhalten die oben beschriebenen psychischen Erkrankungen auch eine Chance der positiven Veränderung im Rahmen der Gesundung.
Robert B., ich wünsche Ihnen das Beste für Ihr Pubertier und geben Sie die Hoffnung nicht auf, dass es wieder anders wird.
Ich drücke Ihnen ganz fest die Daumen und glaube daran, dass Sie und Ihr Pubertier das schaffen.
Auch allen anderen wünsche ich von Herzen alles Gute, dass Sie es schaffen, mit Ihrer Krankheit ein lebenswertes Leben zu führen.
Und vergessen Sie dabei nicht, Ihre Freunde und Familie immer mal zu verwöhnen, und sei es nur mit Kleinigkeiten;-) denn das schafft man mit JEDER Krankheit und das tut ALLEN gut 🙂
Mein Teenager geht seit Monaten nicht mehr in die Schule, hat Depression und soziale Ängste wie er selbst sagt. Er hat aber auch überhaupt kein Interesse daran, das zu ändern, weil der Krankheitsgewinn ewige Ferien bedeuten. Er geht zu keiner Therapie mehr, verlässt das Bett kaum und sagt offen das er kein Interesse am gesund werden hat. Die Depression wird natürlich schlimmer und Freunde hat er längst keine mehr, nur mehr online.
Als Kind kann er die langfristigen Folgen nicht abschätzen. Leider haben Lehrer, Jugendamt und anderer Elternteil das längst akzeptiert, das er einfach zuhause bleibt, und schützen ihn vor Druck von außen.
Ich glaube dieser Artikel hilft mir das Problem zu verstehen.
Ich bin 44 Jahre alt und seit nunmehr 38 Jahren leide ich „bewusst“ an schwerster Angst vor Knallgeräuschen aller Art, ausgelöst durch ein Triggerereignis, welches allerdings nicht ursächlich für die Angst war, sondern selbige seitdem vermutlich nur extrem verstärkt hat. Was das in meinem Leben alles verhindert hat, darauf möchte ich nicht weiter eingehen, man kann es sich vorstellen. Hinter mir liegen Jahre der Eigentherapie wie auch jahrelanger professioneller Unterstützung, Konfrontationen/Expositionen etc. Einen wesentlichen Durchbruch zum Positiven hat es dabei nie gegeben. Mittlerweile habe ich im Brustton der Überzeugung beschlossen, nicht mehr dagegen anzugehen, mich damit einzurichten. Tatsache ist, dass ich vor dem Hintergrund eines Abwägungskalküls zu dieser Conclusio gelangt bin. Im Vergleich zu einer Vollheilung ist das freilich nur eine Second best-Lösung, aber ich bin nicht mehr bereit, dieses enorme Ausmaß an Kraft aufzubringen; und das vermutlich ohne Erfolg. Die Einschränkungen sind weiterhin enorm, gerade weil ich u.a. unterrichte (Erwachsenenbildung) und viel mit Menschen zu tun habe – vor allem aber im privaten Bereich. Worauf ich stolz bin: Trotz der extrem starken und chronifizierten Angst habe ich ein sehr gutes Abitur gemacht und ein Universitätsstudium abgeschlossen. Beruflich bin ich mittlerweile, nach einer sehr langen Anlaufphase, erfolgreich (selbstständiger Dozent und Unternehmensberater).
Ein gesellschaftlicher Fortschritt liegt freilich darin, dass über das Thema mittlerweile offener gesprochen wird. Was mir allerdings übel aufstößt, ist der bisweilen durchschimmernde Tenor (mal direkt, mal indirekt geäußert): „Wenn Du Angst hast, brauchst Du eine Therapie, und dann wird alles besser, sofern Du nur willst und Dich anstrengst.“ Das mag vielfach auch so sein; Schwerstfällen wird man damit aber nicht gerecht. Dass es auch eine Option sein KANN, das Störungsbild hinzunehmen in Anbetracht begrenzter Bewältigungsressourcen – das scheint gewissermaßen nicht vorgesehen zu sein, da stößt dann auch die Akzeptanz des Umfeldes schnell an Grenzen.
Kein Betroffener sollte sich durch den Begriff Krankheitsgewinn angegriffen fühlen. Natürlich ist es unangenehm, den Spiegel vorgehalten zu bekommen. Aber jede Tatsache hat mindestens zwei Seiten der Betrachtungsmöglichkeiten. Es wird immer wieder betont, dass der Krankheitsgewinn eher unbewusst genutzt wird und überdies gibt es ihn in unterschiedlich starken Ausprägungen.
Wenn man selber nicht gesund ist (und wer ist das schon zu 100℅) und sich nicht in der Krankheit einrichtet, hat man es schwer im Umgang mit Kollegen, die immerfort Mitleid, Rücksicht und Verständnis einfordern, wenn es um die Arbeit oder Pflichten geht und im Privatleben alle möglichen erfreulichen Aktivitäten eines Gesunden bewerkstelligen (können).
Intuitiv fühlt man sich irgendwann abgestoßen und ausgenutzt und man weiß, es ist völlig sinnlos die Person darauf hinzuweisen wie man sich damit fühlt. Auch das passiert übrigens unbewusst.
Ich litt selbst jahrelang an Essstörung und gebe es jetzt auch gut und gerne zu, dass ich nicht gesund werden wollte!
Der Gewinn war zu groß, wenn nicht sogar RIESIG!
Ich bekam Anerkennung, enorme Aufmerksamkeit und meine Essstörung wurde gefüttert, indem JEDER auf mich und meine Ernährungsgewohnheiten Rücksicht nahm.
Es drehte sich endlich alles um mich, mich, mich und ich brauchte nichts dafür zu tun – außer NICHT essen.
Komfortzone: CHECK!
Ich konnte endlich rasten, brauchte mich nicht rechtfertigen, warum ich nur „rum lag“ und hatte eine gute „Ausrede“:
Die Essstörung, die Krankheit!
„Hallo Leute, ich bin krank, ich darf jetzt rasten.“ – Ich wollte keine Verantwortung für meine Zukunft übernehmen! Ich wusste ja auch gar nicht, was ich mal machen und werden will und wollte mir keine Gedanken drüber machen.
Erst als ich merkte, dass mein Umfeld nur noch genervt davon war, fing ich an, mein Leben umzukrempeln und an meiner Seele zu arbeiten.
Schritt für Schritt, Tag für Tag und das wichtigste Instrument: ICH selbst!
Zeit mit mir, Zeit mit meinen Gedanken – aufarbeiten, aufarbeiten, aufarbeiten!
Lernen, dass der Körper mir mit dem krankhaften Verhalten etwas sagen will – wozu sollte er mich sonst in diese Lage bringen? Die Lebensaufgabe von meinem Körper ist ja, dass er mich am Laufen hält, dass ich gesund bin!
Als ehemalige Betroffene kann ich diesem Artikel 100 % zustimmen und hätte mich während meiner Erkrankung auch gegen solchen Beitrag gewehrt.
Man fühlt sich entlarvt, enttarnt – huch, jetzt sind sie mir auf die Schliche gekommen. Natürlich funktioniert das ganze Unbewusst! Man will niemanden Bewusst schaden!
Was bleibt einen noch übrig, wenn die Erkrankung weg ist? Wer bin ich ohne meine Erkrankung?
Ich kann auch nicht erkennen, inwieweit ich einen Gewinn aus meiner „Erkrankung“ ziehe, obgleich ich einige aufgeführte Punkte durchaus bejahe.
Ich habe eine Nussallergie und aus Angst vor einem weiteren anaphylaktischen Schock eine Angststörung entwickelt. Ich fahre die absolute Vermeidungsstrategie und genau das beschriebene Muster. Mehrfach konnte ich mich auf Zusagen nicht verlassen, wenn es hieß: Keine Spuren von Nüssen.
Einen Gewinn kann ich in meinem Verhalten allerdings überhaupt nicht erkennen, außer das Gefühl, mein Leben zu schützen.
Der Begriff „Krankheitsgewinn“, oder besser das Phänomen, das dieser Begriff letztlich behandelt, wird von nicht Betroffenen leider wie so oft letztlich auf das Ergebnis reduziert, dass der Kranke gar nicht wirklich krank sei, sondern sich diese Krankheit „hält“, weil sie „rentabel“ (Gewinn) ist. Die Theorie ist einerseits sicher berechtigt und für viele Fälle gültig, aber das Thema „Krankheit“ andererseits viel zu komplex, als dass der o.g. allgemein Schluss gezogen werden darf. Konkret als Beispiel: Ich leide an Panikattacken, und zwar in der schlimmsten Form, das heißt ich leide jeden Tag zwischen 3 und 7 Todesangst. Ich kann mich nicht an diese Attacken „gewöhnen“, weil ich ihren Verlauf kenne und mich drauf verlassen kann, dass sie immer wieder vorbei gehen. Wenn ich nämlich akut eine Panikattacke erleide, dann weiß ich nicht, ob sie wieder so wie die gestern, die von vorgestern oder alle vorherigen verläuft. Die akute könnte die erste sein, die trotz aller Statistiken zum Tode führt. Und ja, ich erhalte von meiner Frau Zuspruch, Trost und Beistand, und ohne ihre Hilfe wäre ich wahrscheinlich schon nicht mehr am Leben. Aber es ist mir unangenehm, dass ich mehr nehme als ich geben kann, ich fühle mich in einer „Bringschuld“, die sich eher hemmend auf meine Genesung auswirkt und die mir Druck macht, endlich wieder gesund zu werden. In so einer Situation zu hören, dass man als Kranker einen Gewinn durch seine Krankheit hat, wirkt für mich wie eine schallende Ohrfeige und zeigt mir, dass wahrscheinlich die meisten, die über dieses Thema diskutieren, in Wirklichkeit keinerlei Verständnis dafür haben.
Sehr geehrter Leser,
danke für Ihren Kommentar!
Wir unterscheiden zwei Dinge (und bedauern es, wenn dies im Artikel so nicht deutlich wurde): Einerseits sind die Menschen krank und haben eine seelische Erkrankung, beispielsweise – so wie bei Ihnen – eine Angsterkrankung. Selbstverständlich sind die Symptome, die Sie nennen, wie auch die dadurch entstehenden Belastungen und Einschränkungen, in einer Erkrankung begründet.
Auf der anderen Seite führen genau diese – durch die vorhandene seelische Erkrankung – entstandenen Belastungen und Einschränkungen dazu, dass andere Entscheidungen, Entwicklungen und Veränderungen, die möglicherweise zum Zeitpunkt der Erkrankung sehr ambivalent besetzt sind, nicht angegangen werden (können?). Das bezeichnet die medizinische und psychologische Wissenschaft als „Gewinn“. Nicht gemeint ist ein daraus resultierendes interaktionelles Ungleichgewicht, wie von ihnen als Beispiel genannt.
Ihnen alles Gute!
Ihr Team der Schlossparkklinik Dirmstein